„Tod - Höhepunkt des Lebens”

 

Dieser durchaus provokante Titel stammt nicht von mir, sondern von dem indischen Mystiker und Meditationslehrer Osho. Er beschreibt den Tod aus spiritueller Sicht und zeigt auf, dass der Tod viel mehr mit dem Leben selbst zu tun hat, als wir uns zunächst eingestehen wollen.

Gestern Abend habe ich im Magazin „Der Spiegel” einen sehr berührenden Artikel über Sterbehilfe gelesen. Die Autorin Beate Lakotta beruft sich dabei auf Jean Améry, ein Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, der den Freitod stets als Ausdruck des Humanes und der menschlichen Freiheit beschrieben hat. Jean Améry selber hatte Zeit seines Lebens seine persönlichen Erlebnisse im KZ schreibend verarbeitet. Entsprechend seiner eigenen Maxime, dass es keinen Selbstmord, sondern nur einen Freitod gibt, wählte er diesen auch schließlich selber, um aus dem Leben zu scheiden.

Die Nachricht, die mich gestern beim Lesen des Artikels erreicht hat, war, dass eine ganz besonders liebe Freundin von mir gestorben ist. Sie ist … war der Typ von liebevolle Frau, die man, ohne sie näher zu kennen, bereits nach 2 Minuten Gespräch einfach gerne in den Arm nehmen würde. Vor zwei Monaten schrieb sie mir, dass sie an Krebs erkrankt sei. Und ich muss hier ganz ehrlich sein: Ich war schon erschrocken und betroffen, aber habe mir gar nicht so große Sorgen um sie gemacht, als sie mir die Nachricht schrieb. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei ihrer Krebsform beträgt 5-10 Jahre. Sie war zu dem Zeitpunkt der Diagnose 71 Jahre alt und bei ihrer sehr gesunden Lebensweise, körperlich wie auch psychisch, hatte ich erwartet, dass sie diesen statistischen Wert der Lebenserwartung locker übertreffen wird.

Aber bereits wenige Wochen später schrieb sie mir, dass die Chemotherapie ohne Erfolg ist und sie sich mit den Ärzten darauf geeinigt hat, nur mehr rein palliativ behandelt zu werden. Das bedeutet, dass man sich auf die Linderung der Symptome und nicht mehr auf die Heilung des Zustands konzentriert. Das war für mich völlig unerwartet. Ganz schlimm war außerdem, dass sie sehr starke Schmerzen hatte, welche sich kaum in den Griff bringen ließen. Sie bedauerte, dass wir nicht in den Niederlanden leben, deutete also den Wunsch nach Hilfe zum Suizid an.

Und gestern erreichte mich dann - nur zwei Monate nach der Krebsdiagnose – die Nachricht, dass sie verstorben ist. Was für ein Schock und wie traurig!

Als Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin habe ich viele Jahre auf einer Intensivstation und auch in der Notfallmedizin gearbeitet. Dabei bin ich dem Tod oftmals begegnet. Es war nicht nur erschreckend, sondern auch immer wieder faszinierend, die vielen verschiedenen Erscheinungsbilder bzw. Gesichter des Todes, die er zeigt, zu erleben:

Schnell und unerwartet, erlösend und barmherzig, quälend und schmerzhaft, unfair und gemein, mysteriös und geheimnisvoll, spirituell und erhaben. Aber alle diese Begegnungen mit den Gesichtern des Todes hatten immer wieder etwas Gemeinsames: Sie haben für mich in meinem Leben etwas geradegerückt, so wie eine schallende Ohrfeige, die sagt „Aufwachen!”.

Und diese Ohrfeige holte mich immer wieder aus meinem Alltagsschlaf und meinen Tagträumen heraus. Ich meine nicht die Form von Schlaf oder Traum, in der man besonders langsam oder abwesend ist, sondern das Verzetteln in unwichtigen und manchmal lächerlichen Dingen:

Der Ärger über einen ungerechten Strafzettel oder darüber, dass mich meine Bank über das Ohr gehauen hat oder jemand hat sich in der Arbeit sehr unfair mir gegenüber verhalten.

Im Augenblick scheinen diese Dinge sehr wichtig zu sein und manchmal beschäftigen Sie einen tagelang oder sogar wochenlang. Kennen Sie das: wiederkehrende Gedanken in einer Endlosspirale? Und falls ja, dann Hand aufs Herz: Wie viel Zeit haben Sie bereits in Ihrem Leben in diese unnötigen Dinge investiert, ohne dass es eine Lösung gebracht hätte?

Und dann, wenn ich unerwartet dem Tod begegnet bin, dann hat es mich regelrecht herausgerissen aus diesen unnützen und leeren Gedankenspiralen. „Was? Seit 3 Wochen ärgere ich mich über meine tricksende Bank. Und hier hat soeben eine Mutter Ihren Sohn bei einem Zugunglück verloren … Lächerlich, was mir wichtig erschienen ist.” Und das ist einerseits die Empathie, das Mitfühlen mit den betroffenen Menschen und andererseits aber auch die Erkenntnis, dass es mir jeden Augenblick auch so ergehen kann – als direkt Betroffener oder als Angehöriger. Die Ohrfeige des Todes hat mich immer wieder in den Augenblick, in die Gegenwart zurückbefördert. Und dafür war ich immer wieder dankbar.

Zurück zu der Freundin, von der ich Ihnen am Anfang erzählt habe. Ihr Tod hat mich besonders betroffen gemacht, viel mehr noch als die beruflichen Begegnungen mit dem Tod. Und dieser unerwartete Tod, der jederzeit jede:n von uns direkt oder indirekt betreffen kann, lehrt mich vieles über den Augenblick. Er erinnert mich daran, dass wir das Leben genießen sollen, es bietet so viel Schönes. Und natürlich bietet es auch Unschönes oder, wie hier, sehr trauriges. Aber der Tod erinnert mich daran, zu unterscheiden, was wichtig im Leben ist. Und wenn ich genau hinschaue, dann entdecke ich so vieles Unwichtiges, dass mich/uns beschäftigt und unnötig vom Genießen des Augenblickes abhält. Und das ist doch sehr schade, weil wir nur diesen einen Augenblick, die Gegenwart haben. Und anstatt sie zu genießen, sind wir mit unserem Verstand immer in der Vergangenheit oder der Zukunft. Wir grübeln über Vergangenes oder machen uns Sorgen über etwas, das noch gar nicht da ist (und dann meistens ohnehin anders ist, als erwartet).

Der indische Mystiker und Meditationslehrer Osho sagt dazu:
„Der Körper bleibt in der Gegenwart und der Verstand fährt fort, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hin und her zu springen; dadurch entsteht eine Kluft zwischen dem Körper und dem Verstand. Der Körper ist in der Gegenwart, und der Verstand ist nie in der Gegenwart; sie treffen sich niemals, sie kommen nie miteinander in Kontakt. Und wegen dieser Kluft tauchen Ängste, Todesfurcht und Spannungen auf. Man ist darin gefangen. Diese Spannung führt dazu, dass man sich Sorgen macht.”
(Aus: Osho, The Open Door).

Und all die Erkenntnisse, die uns der Tod bringt, werden irgendwann in unserem eigenen Tod kulminieren. Den eigenen Tod dabei als etwas zu betrachten, dass nicht schlecht oder gar schlimm ist, sondern als „Höhepunkt des Lebens” (Osho), finde ich eine sehr schöne Sichtweise. Denn, wie kann der Tod unser Gegner sein, wenn er uns andererseits dabei hilft, unser Leben besser zu verstehen und ein schöneres und intensiveres Leben zu führen?

Müsste mit dieser Erfahrung im Leben nicht auch der Moment des Sterbens anders sein, vielleicht leichter oder friedvoller? Ich weiß es nicht, werde Sie aber gerne informieren, sobald ich es rausgefunden habe. 😉 😀

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