Angst essen Seele auf

 

„Angst essen Seele auf“ … Vielleicht kennen Sie ja diesen wunderbaren und berührenden Film von Fassbinder. Der Titel beschreibt unglaublich gut die Auswirkungen von chronischer Angst. Angststörungen sind auf dem Vormarsch. Aufgrund der Pandemie hat die weltweite Anzahl der Angststörungen Schätzungen zufolge um mindestens ein Viertel zugenommen - andere Schätzungen gehen von weit mehr aus. Das ist ein äußerst erschreckendes Ausmaß, gab es ja vor der Pandemie ohnehin bereits circa 300 Millionen Fälle weltweit.
Global prevalence and burden of depressive and anxiety disorders in 204 countries and territories in 2020 due to the COVID-19 pandemic, Lancet 2021, 398

Und dann, als wir uns alle schon vorsichtig gefreut haben, dass die Pandemie sich ein klein wenig beruhigt und etwas mehr Licht am Ende des Pandemie-Tunnels zu sehen ist, brach völlig unerwartet der Krieg aus. Die Ängste der Menschen, insbesondere in Europa, fallen hier auf fruchtbaren Boden. Und jenseits des unfassbaren Leidens der Menschen in der Ukraine leiden auch viele Menschen in Europa indirekt an den Folgen dieses Krieges.

Angst – wozu braucht man das?
Das Gefühl der Angst geht im Allgemeinen mit einem Gefühl der Hilflosigkeit einher, und ich möchte alle Menschen mit der Aussage ermutigen, dass sie dieser Angst keineswegs hilflos ausgeliefert sind. Der erste Schritt, damit besser umgehen zu können, ist ein tiefes Verständnis, wenn wir also Bewusstheit in das Dunkel der Angst bringen.

Angst ist ja zunächst einmal ein sehr sinnvolles Produkt in der Psychologie von Lebewesen. Ohne Angst wären unsere Vorfahren schon längst ausgestorben und man muss ganz klar sagen, dass ein Mensch ohne Angst nicht mutig, sondern einfach nur dumm ist. Angst dient dazu, alle inneren Reserven zu mobilisieren und ein bestimmtes gefährliches Verhalten zu vermeiden. Das macht Sinn: die Überlebenswahrscheinlichkeit steigt. Danach kann man sich wieder entspannen und alle inneren Systeme werden runtergefahren. Zum Problem wird die Angst allerdings, wenn sie anhält oder im Extremfall sogar chronisch wird. 

Aber betrachten wir zunächst einmal die Ebene der realistischen, beziehungsweise berechtigten Angst. Wenn ein Krieg ausbricht, dann ist es völlig normal, Angst um sein Leben beziehungsweise um das Leben der Angehörigen zu haben. Das ist dasselbe, wie wenn man nachts auf der Straße von jemanden mit einem Messer attackiert wird, auch dann ist so eine Angst völlig realistisch.

Und warum trifft es nicht jeden?
Unterhalb dieser Ebene der eben beschriebenen „realistischen“ Angst steckt allerdings eine andere Schicht: es ist eine sehr individuelle Schicht und sie existiert deshalb, weil jeder Mensch in seinem Leben, vor allen Dingen in seiner Kindheit, andere Erfahrungen gemacht hat. Deshalb können bestimmte Situationen jeweils andere Auswirkungen in verschiedenen Menschen triggern. 

Die entscheidenden Fragen lauten also: „Was hat das mit mir zu tun?“, und „Was ist mein persönlicher Anteil an dieser Angst?“ 

Wenn jemand beispielsweise als Kind nie das Gefühl von Sicherheit erleben durfte, beispielsweise weil ein Elternteil alkoholkrank und/oder gewalttätig war, dann ist diese Person besonders anfällig für Angst und Angststörungen. Sie reagiert überstark auf äußere Umstände und Krisen wie die Pandemie oder eben jetzt der Krieg. Die frühkindliche Erfahrung wird zusätzlich getriggert. Die Angst fällt auf besonders fruchtbaren Boden.

Krisenzeiten sind goldene Zeiten
Der indische Mystiker und Meditationslehrer Osho sagt deshalb über Krisenzeiten: "Eine Zeit der Krise ist eine wertvolle Zeit. Wenn alles etabliert ist und es keine Krise gibt, dann sind die Dinge tot. Wenn sich nichts ändert und uns das Alte perfekt im Griff hat, dann ist es fast unmöglich, sich zu ändern. Wenn alles im Chaos ist, nichts statisch, nichts sicher und niemand weiß, was im nächsten Augenblick passieren wird ... In solch einem chaotischen Augenblick seid ihr frei, könnt ihr euch ändern. Ihr könnt das innerste Zentrum eures Seins erreichen." (Aus: Yoga: A New Direction, Talk #10)

Soweit ich ihn hier verstehe, meint er, dass wir durch den Druck, den eine Krise hervorruft, gezwungen werden nach innen zu schauen, Licht in das Dunkel unseres Unterbewussten zu bringen, um etwas über uns selbst zu erfahren – und dadurch entsteht der Raum für Veränderungen und Entwicklung. Es braucht einen gewissen Leidensdruck, bevor wir etwas ändern. 

Dafür fällt aber diese Veränderung dann oftmals überraschend leicht aus. Die bloße Erkenntnis – um beim obigen Beispiel zu bleiben – dass die Angst, die man während einer Krise empfindet, durch die negativen frühkindlichen Erfahrungen mit alkoholkranken und/oder gewalttätigen Eltern erheblich verstärkt wurde, ändert alles: diese Bewusstheit kann bewirken, dass die Angst insgesamt stark abnimmt. Anfangs muss man sich dafür noch regelmäßig und bewusst die neuen Erkenntnisse in Erinnerung rufen. Aber mit der Zeit verfestigen sich diese und das alte Muster beginnt zu verblassen. 

Ganz wichtig: eine strenge Diät
Wir haben 2 Jahre lang auf den Bildschirm gestarrt und haben alle möglichen Daten und Fakten abgerufen, die wir über die Pandemie erhalten konnten. Und jetzt tun wir das Gleiche seit 2 Wochen mit dem Krieg. Ausführliche Gedanken zum Thema Angsttrance finden sie in meinem Blog „Angst, Corona und Trance“

Natürlich, wir wollen informiert sein. Aber beobachten Sie doch einmal, wie viel Zeit Sie wirklich damit verbringen. Und hören Sie einmal tief in sich hinein, warum sie das machen. Wie viel Ihrer Recherche hängt mit dem Wunsch nach Kontrolle zusammen. Also dem unbewussten Wunsch nach weniger Hilflosigkeit in dieser Situation, indem wir dieser mit detailliertem Wissen und Fakten begegnen. 

Das Problem dabei ist, dass wir damit unseren Verstand (und zwar den unbewussten Anteil des Verstandes, aus dem auch die Emotion Angst herkommt – Englisch: mind) massiv anheizen. Und wenn der Verstand erst einmal richtig angeheizt wurde, dann gibt er nicht mehr so schnell Ruhe. Wenn wir mit exzessivem Suchen und Lesen nach Fakten zum Thema Krieg den Verstand übermäßig anheizen, dann erreichen wir damit nur das Gegenteil: der Verstand dreht auf und die ohnehin schon vorhandene Angst wird nur stärker. Unruhe, schlechter Schlaf und Schlaflosigkeit, nächtliches Aufwachen, Gereiztheit und Ungeduld oder vielleicht Rückzug und Verzweiflung sind die Folge – alles Auswirkungen der Angst. 

Deshalb meine Empfehlung, dass sie ihren Internetgebrauch und Nachrichtenkonsum gerade in solchen Zeiten auf das notwendige Minimum reduzieren, so viel wie sie gerade an wirklich wichtigen Informationen im Moment brauchen. Was die meisten Menschen mit Angststörungen im Moment brauchen, ist also eine strenge Medien-Diät.

Zur Ruhe kommen
Ich empfehle unbedingt das Erlernen von Entspannungsübungen jeglicher Art. Meditation ist auf jeden Fall viel mehr als eine bloße Entspannungsübung. Allerdings kann sie bei einer stark ausgeprägten Angststörung schwierig sein, da wir die Stille anfangs schwer aushalten. Dann probieren Sie es doch einmal mit verschiedenen Atemübungen oder Selbsthypnose oder autogenem Training.

Und ganz wichtig: Seien Sie gut zu sich. Nehmen Sie sich Zeit für Spaziergänge in der Natur, ein Wannenbad kann sehr angenehm und beruhigend sein oder was auch immer Sie mögen, um sich selbst zu verwöhnen.

Kurz zusammengefasst
Was gegen die Angst hilft, sind Bewusstheit, strenge Medien-Diät, Entspannungsübungen und jegliche Form der „Selbstverwöhnung“.

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Schmerzmittel, Bewusstheit und Demokratie

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Der Mensch stammt vom Affen ab, oder?